Magazin / 14. Februar 2022

Radio, das Geschichten erzählt und Geschichte schreibt

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Interview mit „Zündfunk“-Redaktionsleiter Jan Heiermann und Musikredakteur Michael Bartle.

„Zündfunk“ ist das Radioprogramm des Bayerischen Rundfunks für alle, die sich nicht nur für Musik fern ab vom Mainstream begeistern, sondern auch an aktuellen, gesellschaftlichen Themen interessiert sind. Wir haben zwei der Zündfunk-Macher getroffen – den Redaktionsleiter Jan Heiermann und den Musikredakteur Michael Bartle. Im Interview erzählen sie uns, wie Newcomer es mit ihrer Musik in die Sendung schaffen, welche Talente man auf dem musikalischen Radar haben sollte und warum Radio weiterhin eines der bedeutendsten Medien ist.

Interview: Michael Konle
 

Der Zündfunk ist bekannt dafür, der Musik abseits des Mainstreams eine Bühne zu bieten. Wie schafft es ein Liedtitel heute in Ihr Programm? Nach welchen Kriterien wählen Sie Künstlerinnen und Künstler aus?

Michael Bartle: Wir spielen Musik, wenn sie uns etwas Relevantes, etwas Neues erzählt, wenn Künstlerinnen und Künstler neue Formen ausprobieren. Als zweites zählt die Empathie, also dass unsere Musikjournalistinnen und Musikjournalisten sowie Moderatorinnen und Moderatoren wirklich hinter einem Song stehen. Deswegen nutzen wir auch keine Computer, die uns eine bestimmte Musikrotation vorgeben, sondern spielen nur handverlesene Titel, die auch bei uns zuhause laufen. Der dritte Grund ist die Nostalgie. Es ist uns sehr wichtig, Musikgeschichte zu erzählen. Wenn zum Beispiel ein Song 50 Jahre alt wird, ist das für uns ein guter Anlass, ihn im Programm wiederzubeleben.
 

Früher schickten Musikschaffende ihre Demo-Tapes bzw. -CDs an die Senderchefs. Wie läuft das heute?

Jan Heiermann: Wir erhalten immer noch Songs auf CD oder auf Vinyl zugeschickt, aber das nimmt ab, das meiste läuft heute natürlich digital. Viele junge Bands kennen den Zündfunk und wissen, dass sie uns etwas einsenden können. Für neue Künstlerinnen und Künstler haben wir eine spezielle Rubrik, die „Montagsdemo“ mit Achim Bogdahn, wo wir dann ganz gezielt Newcomer ins Programm nehmen.

„Es ist uns egal, ob jemand schon einen Plattenvertrag hat.
Hauptsache, der Song klingt gut. Und erzählt eine Geschichte.“

Michael Bartle, Musikredakteur Zündfunk

Michael Bartle: Aus diversen Einsendungen wählen wir jeden Montag die besten neuen Künstlerinnen und Künstler aus, ganz gleich, ob jemand schon ein Label oder einen Plattenvertrag hat oder nicht. Hauptsache, es klingt gut und spannend. Außerdem reisen wir mit dem Ü-Wagen ein paar Mal im Jahr durch Bayern, graben dort in den lokalen Szenen und lassen uns spannende Musik präsentieren.
 

Haben Sie einen Profi-Tipp für Newcomer, wie sie sich am wirkungsvollsten bei einem Radiosender präsentieren?

Michael Bartle: Am einfachsten ist es momentan, uns einfach einen Link zu einem YouTube-Video oder einem anderen Kanal zu senden. Was mir aber auch wichtig ist: Gibt es eine spannende Geschichte zum Song? Deshalb meine Empfehlung: Erzählt uns, warum ihr diese Musik macht.

Jan Heiermann: Das Stichwort lautet „Authentizität“. Klar, das verlangt heute jeder. Aber wenn Leute ehrlich sind, eine Message haben, dann kann das funktionieren. Auch wenn sie sagen „Wir haben keine Message“, ist das authentisch. Wenn man hingegen nur Rockstar spielen will, wird es schwierig. Bei uns arbeiten ja viele Musikjournalistinnen und Musikjournalisten, die Marketing-Mechanismen schnell durchschauen.
 

Bestimmen Ihre gesellschaftlich brisanten Themen im Programm die Musik oder umgekehrt?

Jan Heiermann: Wir haben schon ein Faible für Musik, die sich politisch verhält. Wobei wir deshalb nicht die ganze Zeit „Nie wieder Krieg“ von Tocotronic spielen müssen. Ich persönlich glaube, Popkultur, die sich politisch verhält, ist einfach interessanter. Das können auch ganz alltägliche Themen sein, denn auch das Private ist politisch. Ich würde sagen, Popmusik mit Aussage hat es schon leichter bei uns. Aber es gibt natürlich auch die andere Fraktion, die sagt „Warum? Ich will einfach nur tanzen.“ Das ist natürlich auch in Ordnung. Und dann hat Musik bei uns am Ende auch immer einen gewissen Empfehlungscharakter. Bei uns arbeiten Musikjournalistinnen und -journalisten wie zum Beispiel Karl Bruckmaier, der seit Jahrzehnten nichts anderes macht, als Musik auszuwählen und anzuhören. Wenn der sagt: „Das ist eine gute Band“, dann glaube ich das auch. Es kann also auch der persönliche Geschmack maßgeblich sein. Die Bandbreite reicht bei uns von politisch interessant bis hin zu „Das ist einfach ein geiles Stück!“

„Musik, die wir spielen, muss für sich selbst stehen.
Und darf ruhig mal irritieren.“

Michael Bartle, Musikredakteur Zündfunk

Michael Bartle: Ich bin kein Fan davon, Musik immer thematisch passend zu einem Thema davor auszuwählen. Musik muss schon für sich selbst stehen. Ich glaube, im Vergleich zu anderen Kanälen vertrauen wir mehr darauf, dass unsere Hörerinnen und Hörer nicht gleich wegbleiben, wenn ihnen mal ein Stück nicht so gefällt. Sie haben verstanden, dass wir uns anstrengen, dass wir Musik empathisch auswählen und dass sie von der nächsten oder übernächsten Nummer wieder überzeugt sind. Unsere Musik darf ruhig mal irritieren. Patti Smith sagte einmal in einem Interview zu uns: „Rock 'n' Roll ist the voice of a generation! I can dance to a record of Adele or the Rolling Stones!“ Musik kann die Stimme von jemandem sein, der vielleicht sonst nicht gehört wird. Oder sie ist einfach so super wie die von den Rolling Stones, sodass sie mich auf die Tanzfläche schickt.
 

Inzwischen gibt es beim ehemals recht regionalen Medium Radio dank Internet und Digitalisierung keine Grenzen mehr. Wie hat sich Ihre Hörerschaft dadurch verändert? Hat diese Reichweite Einfluss auf die Inhalte?

Jan Heiermann: Diese Entwicklung ist ja nicht mehr ganz so neu. Internetradio war ja schon in den 2000er-Jahren ein Thema. Ich glaube, die große Veränderung beim Publikum hat bereits in dieser Zeit stattgefunden. Seitdem bekommen wir auch aus Berlin oder Hamburg Zuschriften. An unserer Ausrichtung hat sich jedoch nicht viel geändert. Die meisten Hörerinnen und Hörer des Live-Radioprogramms stammen immer noch aus dem klassischen BR-Sendegebiet. Etwas anders verhält es sich bei Podcasts. Für den „Zündfunk Generator“ kommen viele Reaktionen aus anderen urbanen Zentren, wo man Themen wie Diversity und Aktivismus auch interessant findet.

Michael Bartle: Diese Entwicklung ist eine echte Herausforderung. Was bedeutet es für uns, wenn uns Menschen mittels Radio-App zu jeder Zeit hören können? Wie aktuell wollen wir da überhaupt noch sein? Was heißt das für die Musik?

Jan Heiermann: Genau! Das ist eher neu für uns. Nicht, dass die Leute den Zündfunk auch woanders, sondern zeitunabhängig, sieben Tage die Woche anhören können – egal ob morgens um neun oder abends um sechs. Dadurch verändern sich die Hörertypen im Moment noch stärker.
 

Sind Streaming-Plattformen wie Apple Music oder Spotify eine ernst zu nehmende Konkurrenz für das Radio? Wird dadurch das Ende des klassischen Live-Radios eingeläutet?

Jan Heiermann: Meine persönliche Meinung ist, dass sich am Live-Charakter des Radios nicht viel verändern wird. Live-Inhalte werden auch weiterhin attraktiv bleiben. Alle anderen Inhalte werden natürlich den Weg des Digitalen gehen und an Attraktivität gewinnen, weil sie zeitunabhängig abrufbar sind. Eine Sendung wie den „Zündfunk Generator“, die nicht tagesaktuell ist, muss ich nicht unbedingt am Sonntag um zehn Uhr hören. Da werden Spotify & Co. sicherlich zur Konkurrenz für unsere eigene Audiothek. Aber den Charakter eines Live-Radios, bei dem jemand am Mikro sitzt und mir erzählt, was in diesem Moment passiert, wird eine reine Streaming-Plattform wie Spotify so nicht bieten können, glaube ich.

„Live-Radio wird immer attraktiv bleiben.“

Jan Heiermann, Redaktionsleiter Zündfunk

Michael Bartle: Wir überlegen uns inzwischen ganz genau, was wir live und was wir sozusagen für die Ewigkeit, für den Abruf herstellen wollen. Es ist sicher etwas anderes, ob du der tägliche Begleiter um 19:05 Uhr bist oder ob du eine Sendung zum Leben von David Bowie machst, der jetzt 75 Jahre alt geworden wäre. So eine Sendung gehe ich ganz anders an, die baue ich anders auf, von der weiß ich, dass sie später auch in der ARD Audiothek laufen soll. Aber wir können nicht so hochnäsig sein, diese Konkurrenz zu ignorieren. Jede Serie auf Netflix ist ein Konkurrent für uns, jeder Podcast auf Spotify. Im Prinzip jeder Spaziergang, jedes Buch, jede Sportart. Es ist für uns deshalb dadurch noch wichtiger, zu entscheiden, was wir den Hörerinnen und Hörern, den Userinnen und Usern eigentlich liefern wollen. Daran arbeiten wir gerade ganz extrem.

Jan Heiermann: Wir Menschen haben halt ein begrenztes Zeit- und Medienbudget. Deshalb müssen wir als Zündfunk diesen Konkurrenzansatz erweitern und einfach so gut sein, dass wir für viele zum triftigen Grund werden, weshalb sie uns konsumieren wollen. Das ist die große Herausforderung.
 

Was genau lieben Sie an Ihrem Job? Ist es nur der Wunsch, der jeweiligen Lieblingsmusik eine Plattform zu geben?

Jan Heiermann: Lieblingsmusik wäre zu kurz gegriffen. Ich habe da meinen persönlichen Geschmack, klar, aber wenn es darum geht, aus journalistischer Sicht eine Musiksendung zu machen, wird die anders klingen als eine Musiksendung für mich persönlich. Ich glaube, Leidenschaft ist hier der Schlüssel. Wenn Sie mich fragen, was mich jeden Tag zum Sender oder derzeit ins virtuelle Team-Meeting treibt, dann ist es die Tatsache, dass ich mit Leuten zusammenarbeiten darf, mit denen ich eine Leidenschaft für eine Sache teile. Bei uns macht niemand Dienst nach Vorschrift. Manchmal führen wir ewig lange Diskussionen, weil jeder von uns so leidenschaftlich dabei ist. Das kann dich manchmal schon nerven, aber unterm Strich bin ich dafür sehr dankbar.

Michael Bartle: Es geht ja immer um beides. Zum einen, sich zu freuen, wenn jemand aus dem Team das legendäre Album „Meddle“ von Pink Floyd rauskramt. Auf der anderen Seite, darauf Bock zu haben, etwas Neues zu lernen. Das ist doch wunderbar! Gerade heute haben wir in einer Besprechung von jungen Mitarbeiterinnen erfahren, dass es im Jemen, in Syrien und im Irak eine ganz heftige musikalische Antikriegs- und Antidiktatoren-Unit gibt, also Leute, die da rappen, Musik machen und verboten werden, die teilweise nur im Verborgenen aktiv sein können. Gegen etwas zu sein und Dinge besser machen zu wollen, ist nicht nur das Markenzeichen von Bob Dylan und Patti Smith, sondern ist hochaktuell. Es macht mich glücklich, dass ich so etwas lernen darf, dass dafür jemand bei uns die Expertise mitbringt. Da lasse ich mir gerne von einer jungen Kollegin etwas erzählen, die wahnsinnig viel Ahnung von Musik aus dem Nahen Osten hat.
 

Hören Sie privat eigentlich auch noch Radio?

Michael Bartle: Ich höre die „radioWelten“ und die „kulturWelten“ auf Bayern 2 und immer wieder mal BBC und BBC 6. Ich schaue natürlich auch, was die Kolleginnen und Kollegen von FM4 machen. Ich freue mich, wenn ich einen Freund in Berlin besuche und dort dann Radio 1 läuft. Und natürlich loten wir professionell aus, welche Podcasts warum erfolgreich sind. Die Leidenschaft für das Medium Radio, oder sagen wir lieber Audio, ist bei mir in jedem Fall sehr ausgeprägt und das wird auch so bleiben.
 

Welche Zukunftsmusik erklingt beim Zündfunk? Wo soll es noch hingehen? Gibt es spezielle Träume und Wünsche?

Jan Heiermann: Wir beschäftigen uns natürlich hauptsächlich mit der Frage, welche Inhalte wir auf welche Art und Weise präsentieren. Was soll zeitunabhängig verfügbar sein, wo müssen wir den Live-Charakter stärken? Eine spannende Entwicklung.

„Unser Programm muss relevant bleiben –
unabhängig vom Ausspielweg.“

Jan Heiermann, Redaktionsleiter Zündfunk

Mir persönlich ist es wichtig, dass unser Programm relevant bleibt, unabhängig vom Ausspielweg. Mit Leidenschaft und Expertise, mit Fachleuten, die sich jeden Tag echt anstrengen, um das beste Produkt zu erschaffen. Wenn uns das gelingt, dann bin ich glücklich.

Michael Bartle: Wenn jemand etwas zu einem Künstler oder einer Künstlerin im Internet recherchiert, den oder die wir bereits interviewen durften oder zu dem wir schon eine Sendung aufgenommen haben, wie beispielsweise David Bowie, Iggy Pop, Patti Smith oder Nick Drake, dann hoffe ich, dass man dann auch eine Sendung von uns findet – und die dann natürlich auch mag.
 

Zum Abschluss bitte noch ein Insider-Tipp: Welche musikalischen Newcomer sollte man gerade im Blick bzw. im Ohr haben?

Jan Heiermann: Mir wurde heute von jemanden aus unserer Musikredaktion „yeule“ ans Herz gelegt, ein Musikprojekt von Nat Cmiel, einer non-binären Person aus Singapur, die unglaublich gut und mutig ist.

Michael Bartle: Ich finde gerade den Song „Last Night“ von Arooy Aftap ganz toll, der letztes Jahr erschienen ist. Die Künstlerin stammt aus Pakistan, ist in jungen Jahren ausgewandert, um am Berkeley College of Music Produktion zu studieren und dann ihr erstes Album rauszubringen. Sie ist, glaube ich, auch für den Nachwuchs-Grammy nominiert. „Last Night“ klingt zunächst eher kommerziell, driftet dann ab ins Arabische, unterlegt mit einem Reggae Beat – richtig gut!
 

Vielen Dank für diese Empfehlungen und für das interessante Gespräch. Weiterhin noch viel Erfolg und Leidenschaft mit dem „Zündfunk“!

Das Radioformat „Zündfunk“ des Bayerischen Rundfunks existiert seit 1974 und läuft von Montag bis Samstag um 19:05 Uhr und am Sonntag um 22:05 Uhr auf Bayern 2 – dem Sender, der 2021 den Radiokulturpreis der GEMA gewonnen hat.

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