Magazin / 17. August 2023

Die Wurzeln deutschsprachiger Musik, Teil 4: Neue deutsche Dreiklangdimensionen:

Die großen Kriege lagen bereits Jahrzehnte zurück, das Wirtschaftswunder brummte und die deutschsprachige Musik erfreute sich Dank Vinyltonträgern, Rundfunk und Fernsehen größter Beliebtheit. Chartplatzierungen und Goldene Schallplatten regneten vom Schlagerhimmel hernieder und doch begann das Konstrukt erste Risse zu bekommen.

Eine neue Generation kulturliebender Hörer und Hörerinnen wuchs heran, geprägt von einem rigiden und beängstigenden Ost-West-Konflikt, das schreckliche Erbe des Dritten Reiches mit sich tragend, unwillig den nicht selten verklärten Wohlklängen der Volksmusik und Schlager zu folgen.

Neue Lieder braucht das Land

Noch immer bediente sich der Schlager alter Volkslied-Tugenden und fokussierte sich häufig auf die romantisierende Darstellung einer heilen Welt. Aber diese Welt war im Wandel – in immer schnelleren Schüben. Die Globalisierung spülte zunehmend ausländisches Liedgut in die noch junge BRD. Der Einfluss vor allem englischsprachiger Musik mehrte sich und drängte überwiegend bei den jüngeren Hörenden den klassischen Schlager immer weiter ins Abseits. Vorbei war die Zeit säuselnder Verdrängung. Musik wurde – wie zur Zeit der Arbeiterlieder – wieder laut und unbequem. Der Rundfunk und das 1952 gestartete Deutsche Fernsehen ignorierten diese Entwicklung anfangs, weshalb die Jugendlichen zu sogenannten „Soldatensendern“ überliefen. Erst 1965 wurde mit dem „Beat-Club“ die erste deutsche Musiksendung mit englischsprachigen Interpreten im Fernsehen gestartet – lange vor Ilja Richters lockerem Begrüßungssatz „Hallo Freunde“ im Kultformat „disco“.

Der Einzug der Beat-Musik veränderte die westdeutsche Tonlandschaft grundlegend, auch gegen den Willen der konservativen Kulturschaffenden. Lange Haare, wilde Kleidung und ein aufsässiges, ja, revolutionäres Gedankengut wurden mit den Bands in Verbindung gebracht. Als Gegenbewegung wurde versucht, internationale Hits von bekannten nationalen Stars „einzudeutschen“, um den Schlager auch beim jüngeren Publikum wieder beliebter zu machen. Die seinerzeit noch unbekannte Juliane Werding landete mit ihrem Anti-Drogen-Song „Der Tag als Conny Kramer starb“ im Frühjahr 1972 einen Nummer-Eins-Hit und konnte sich 14 Wochen lang in den Top Ten halten. Es handelte sich dabei um eine eingedeutschte Coverversion des kanadisch-amerikanischen Songs „The Night They Drove Old Dixie Down“ von The Band, der auch in vielen anderen Ländern „neu verwertet“ wurde. So traten Pop und Rock, als Nachfolger der Beat-Musik, einen unaufhaltsamen Triumphzug an.


Man singt Deutsch

Zu Beginn der Sechzigerjahre wurden die meisten Nummer-1-Hits noch auf Deutsch gesungen. Im Laufe des Jahrzehnts sank der Anteil deutschsprachiger Charthits jedoch deutlich ab. Die Verwendung der Muttersprache blieb nichtsdestotrotz in nahezu allen Genres en vogue. Vielmehr gelang es den Musikschaffenden zusehends, internationale Strömungen und neue Elemente in die eigene Klangkultur zu integrieren – oder sich bewusst von ausländischen Trends abzugrenzen.

Während nämlich als radikale Gegenbewegung zur neuen Pop- und Rockwelle der modern produzierte volkstümliche Schlager gerade auch im Fernsehen bei Heinz Schenks „Zum Blauem Bock“ oder „Im Krug zum grünen Kranze“ immer neue Blüten trieb und die Grenzen des traditionellen Volksliedes überdehnte, gingen die Liedermacher im Zuge der 68er-Bewegung einen völlig eigenen und traditionellen Weg. Einerseits griffen sie die mittelalterlichen Gepflogenheiten der Fahrenden Leute auf – jenen vagabundierenden Individuen und Gruppen unterschiedlicher Herkunft, deren Tätigkeitsfelder entgegen gängiger Klischees weit über das Schausteller- und Zirkusmilieu hinausgingen – indem sie sich mit dem einfachen Volk identifizierten und sich als dessen Sprachrohr sahen. Andererseits verstand man sich als individuelle Kunstform in Abgrenzung zum englischsprachigen Singer-Songwriter oder französischen Chansonniers. Auch wenn sich die im Berliner Umland wirkende Dichterin Anna Louisa Karsch bereits im 18. Jahrhundert „Liedermacherin“ nannte, waren und sind die Themen des rebellischen Volkssängers Hannes Wader, die „sadopoetischen Gesänge“ Konstantin Weckers oder Reinhard Meys „Über den Wolken“ stets hochaktuell, oft politisch und nicht selten verschmitzt satirisch. Und zeitlos. Denn gerade jetzt sind Waders Friedenshymne „Es ist an der Zeit“ aus dem Jahre 1980 oder Meys Verweigerungserklärung „Nein, meine Söhne geb‘ ich nicht“ von 1986 bedeutungsvoller denn je. Die „Achtung vor dem Leben“ steht über dem kriegstreiberischen „Wahn“ derer, die sich „in weiche Kissen“ setzen, während sie das Volk „in Reih‘ und Glied“ in den Tod schicken.

Gegen den Strom

Gesellschaftliche Umwälzungen, auch außerhalb der Bundesrepublik, äußerten sich immer häufiger in immer neuen Stilrichtungen. In Großbritannien zog schon in den 1960ern der Punk als wütendes, politisches Statement gegen kapitalistische Ausbeutung, Krieg und reaktionäre Institutionen herauf. Während sich hierzulande in den klang-anarchischen Anfangstagen zahlreiche Bands lediglich an den Sex Pistols orientierten, grölte die Punkband Male aus Düsseldorf ihre Texte mit der LP „Zensur & Zensur“ 1979 bereits auf Deutsch von den Bühnen herab. Auch wenn der Kombo rund um den späteren Die-Krupps-Gründer, Jürgen Engler, den chaotischen Regeln des Genres gehorchend, nur eine kurze Lebensdauer beschert war, dürfen sie als Wegbereiter der deutschen Punkszene betrachtet werden. Sie begünstigten die Gründung neuer Gruppen wie Fehlfarben, die in dem für sie untypischen „Ein Jahr (Es geht voran)“ den Kalten Krieg und die Rezession in den Mittelpunkt rückten. Obwohl der Song bereits 1980 Teil des Albums „Monarchie und Alltag“ war, schob das Plattenlabel den Titel 1982 gegen den Willen der Band als Single erneut auf den Markt, um auf der Neuen Deutschen Welle kommerziell mitreiten zu können. Textzeilen wie „Keine Atempause. Geschichte wird gemacht.“ symbolisierten den nihilistischen Zeitgeist einer dem Untergang entgegentaumelnden Welt – verpackt in eingängige Funk-Pop-Rhythmen.

Die aus Ostberlin stammende „Godmother Of Punk“, Nina Hagen, war ebenfalls ein Katalysator für die Entwicklung zahlreicher akustischer Subkulturen. Nach ihrer Emigration aus der damaligen DDR nach Großbritannien gründete sie die Nina Hagen Band und durfte 1977 mit „TV-Glotzer“ ihren ersten gesellschaftskritischen Erfolg feiern. In ihrem Fahrwasser fassten nicht nur der New Wave und Post-Punk auch in Deutschland Fuß. Ganz andere Werdegänge beschritten die Punk-Rock-Urgesteine Die Ärzte aus Berlin und die Düsseldorfer Toten Hosen, die beide im Jahr 1982 ihre ersten noch zaghaften aber bereits eigenständigen Gehversuche machten und das Genre in völlig neue und ungeahnte Bahnen lenkten.

Wir sind die Roboter

Abseits der ZDF-Hitparade, in der Dieter Thomas Heck seit 1969 die Schlagerfahne hochhielt, und der ungewohnten Härte des Punks entwickelte sich eine ganz neue Welt der Klänge. Schon im 18. Jahrhundert erfand der französische Theologe Jean-Baptiste Delaborde das Clavecin électrique, das erste Musikinstrument, das Strom verwendete. Sein elektrisches Cembalo war eng mit der Evolution der elektronischen Musik verwoben, denn beide Bereiche befanden sich quasi in einer symbiotischen Beziehung zueinander. Erste experimentelle Schritte wagte der französische Ingenieur Pierre Schaeffer im Jahr 1943 mit seiner Forschungsstelle für radiophone Kunst in Paris. 1951 folgte die Gründung des Kölner Studios für Elektronische Musik. Bei beiden Projekten hatte der deutsche Komponist Karlheinz Stockhausen mitgewirkt, einer der Pioniere elektronischer und Neuer Musik. All diesen Vorreitern ist es zu verdanken, dass elektronische Tonerzeuger bereits in den Sechzigern erschwinglicher wurden und damit eine weitere Verbreitung erfuhren – auch über die Musik hinaus. Dem innovativen Aktionskünstler Joseph Beuys dienten die elektronischen Klangsphären beispielsweise als Quell der Inspiration für die Findung seines erweiterten Kunstbegriffs. Zur sogenannten Berliner Schule gehörten die 1967 gegründeten Tangerine Dream, die spätestens mit ihrer Single „Das Mädchen auf der Treppe“, der Titelmusik zum gleichnamigen Sonntagabend-Krimi „Tatort“, 1982 in aller Ohren und in der Top 20 der Charts waren. Zu der heute noch bestehenden progressiven Formation zählten übrigens auch der Beuys-Schüler Conrad Schnitzler und die beiden Soundvirtuosen Edgar Froese und Klaus Schulze. Letzterer nutzte für seine Werke das in den Siebzigern zur Legende gewordene „Big-Moog“-Modularsystem. Dieser Synthesizer besaß auf einer Fläche von 1,16 Quadratmetern die beachtliche Menge von über 100 Drehknöpfen, Schaltern und Buchsen. Aus dem Tangerine-Dream-Umfeld stammte auch der erste Synthesizer, den Ralf Hütter und Florian Schneider 1970 zum Einsatz brachten, und damit das zukunftsweisende Multimedia-Projekt Kraftwerk ins Leben riefen. Kraftwerk schufen nicht nur etwas gänzlich Neues und beeinflussten namhafte Künstler im In- und Ausland, sie brachten mit „Radioaktivität“, „Die Roboter“ oder „Das Model“ elektronische Hits mit deutschen Texten in die heimischen Wohnzimmer.

Musik war schon immer dynamisch, in Bewegung, im Fluss. Doch mit Beginn der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts fand eine wahre Explosion klanglicher Revolutionen statt. Musiktheorien wurden hinterfragt und neu ersonnen. Gewohnheiten wurden über Bord geworfen. Das Songwriting glich einer Spielwiese, einem neugierigen Experiment. Und während die einen nach dem unkommerziellen reinen Kunstwerk suchten oder ihre Kompositionen und Verse in den Dienst der Aufklärung stellten, wollten andere schlichtweg nur dem persönlichen Hedonismus frönen. Mit „Ich will Spaß“ landete Markus 1982 zu den Hochzeiten der Neuen Deutschen Welle ein erfolgreiches One-Hit-Wonder. Nicht viel später tönten erste aggressive Deutschrap-Reime durch Berlins graue Straßenschluchten. Und auf der anderen Seite der Mauer? Das und mehr zu den folgenden turbulenten Dekaden deutschsprachiger Musikgeschichte in den nächsten Teilen der Reihe.