Magazin / 20. Oktober 2023

Die Wurzeln deutschsprachiger Musik, Teil 5: Wogende Gitarrensphären

In den 1960er-Jahren war Musik in der Bundesrepublik zu einem mannigfaltigen Kulturgut herangereift. Der Plattenmarkt boomte. Neue Sendeformate eroberten die Radiostationen, während bald auch – anfangs noch zögerlich – eigene Fernsehshows um die Gunst der Zuschauenden buhlten. Die noch in den Kinderschuhen steckende Elektronische Musik befruchtete in Windeseile unterschiedlichste Genres.

Punk, Pop, Rock, Schlager, ja, selbst Jazz, Soul oder Reggae gingen teilweise neue Wege und wurden spielerisch miteinander verwoben. Sowohl die Fachpresse als auch die Marketingabteilungen der Musiklabels arbeiteten unter Hochdruck, um die Strömungen und Entwicklungen zu katego-risieren und neue Hörergruppen zu erschließen.

Experimentelles Sauerkraut

So war es eine Werbeanzeige der deutschen Firma Popo Music Management, die in dem US-Magazin „Billboard“ 1971 erstmals mit der Wortschöpfung „Krautrock“ das Vinyl aus dem eigenen Neu-Isenburger Label Bacillus Records anpries. Dabei griff die Agentur auf die international bekannte Nationalspeise und die vermutlich davon abgeleitete stereotypisierende Bezeichnung für die Deutschen im Zweiten Weltkrieg zurück, um die Künstler geografisch zuordnen zu können. Der Neologismus verbreitete sich schnell über die britische Fachpresse und wurde 1973 sogar vom Musikgiganten Virgin als generelle Genre-Bezeichnung für Rockmusik aus Deutschland übernommen, nachdem die progressiven Hamburger Faust den knapp zwölfminütigen Song ihres Albums „IV“ „Krautrock“ tauften.

Doch der Begriff stand für mehr als nur eine bloße Verortung. Trotz der englischsprachigen Prägung der Rockmusik emanzipierten sich einige Combos bewusst durch ihren deutschen Gesang, andere wiederum verzichteten gänzlich auf Texte. Auch stilistisch gab es eine wenig homogene Ausrichtung von Space über Psychedelic Rock. Sie alle einte jedoch die Vorliebe für komplexe Songstrukturen und experimentelle oft elektronische Arrangements.

Vielfach kokettierten die Krautrockvertreter mit dem außerparlamentarischen Widerstand und linken Gruppierungen, waren sozusagen „rockige Liedermacherverbindungen“. Die krautigen Politrocker Ton Steine Scherben und ihr Sänger Rio Reiser schlugen 1970 mit ihrer ersten in Berlin Kreuzberg aufgenommenen Single „Macht kaputt, was euch kaputt macht“/ „Wir streiken“ einen harschen gesellschaftskritischen Tonfall an. Kein Wunder, dass bei ihrem ersten Auftritt auf dem Love-and-Peace-Festival im September des gleichen Jahres die komplette Bühne abbrannte.

Hinterm Horizont

Die deutsche Rockmusik hatte sich spürbar von den Wurzeln aus Übersee abgegrenzt und weiterentwickelt. Spätestens mit den Internationalen Essener Songtagen 1968 kann von eigenständigem Deutschrock gesprochen werden. Und dieser war auch international erfolgreich. Doch zum Verlassen des Undergrounds bedurfte es noch einiger Wegbereiter – und einer eingängigeren Ausrichtung. So konnte Udo Lindenberg 1973 mit seiner dritten Scheibe „Alles klar auf der Andrea Doria“ für sechs Monate in den deutschen Charts landen und ebnete mit seiner unverkennbaren Stimme und dem ungewöhnlich rauen Sound dem Deutschrock die Pforten zum Mainstream. „Wir haben einfach rumexperimentiert und mal geguckt“, erinnert sich die selbsternannte Panikrakete an diesen zündenden Moment, damals in der Hamburger Kultkneipe Onkel Pö. Und auch wenn Herr Lindenberg mit seinem Panikorchester Dixieland, Blues, Folk und andere klangliche Spielarten wild durcheinanderwirbelte, waren seine Texte greifbarer und alltagstauglicher, die Songs kürzer und griffiger als bei den Krautrockern.

Eine gewaltige Anzahl an Plattenlabels wurde aus dem Boden gestampft, um dem neuen Genre Aufschwung zu verschaffen. Dieser reichte sogar bis in die Tagesschau hinein, wo erstmals mit dem 1978 veröffentlichten „Charline“ von der Band Wallenstein ein Deutschrocksong vorgestellt wurde.  „Mit Pfefferminz bin ich der Prinz“ bescherte Marius Müller-Westernhagen ebenfalls 1978 seinen ersten Charterfolg, auch wenn er trotz rockiger Untertöne deutlich spürbarer mit dem Pop liebäugelte.

König von Rockland

In den Achtzigern erfuhr der Deutschrock noch einmal als Gegenbewegung zur Neuen Deutschen Welle und ihrer oft klamaukigen Ausrichtung einen massiven Boom. Herbert Grönemeyers 1984 veröffentlichte „4630 Bochum“-LP hielt sich 79 Wochen in den Top 100 der Hitparade, die Singleauskopplung „Männer“ war schnell in aller Munde. Auch der Rockpoet Heinz Rudolf Kunze konnte ein Jahr später mit „Dein ist mein ganzes Herz“ einen gewaltigen Hit feiern, der lyrisch nach wie vor seinen eigenen hohen Maßstäben entsprach, kompositorisch aber eine deutlich eingängigere Sprache sprach. Diesem Trend folgend stimmten auch andere Musiker hörbar rockigere Töne an. So bewegte sich der durch die Millionenseller-Ballade „Du“ bekanntgewordene Peter Maffay mit seiner Scheibe „Steppenwolf“ aus dem Schlagerdunstkreis heraus. Dank seines zweiten Nummer-eins-Hits „So bist Du“ konnte die Scheibe 1,6 Millionen Mal über die Ladentheke gehen. 1979 war das ein Verkaufsrekord.

Parallel hierzu konnten sich die Kölschrocker BAP oder auch die aus München stammende Spider Murphy Gang aus ihrem regionalen Umfeld erheben und sich im gesamten deutschsprachigen Raum behaupten. BAP gelang es sogar, den bestehenden Rekord der Beatles von zwölf Nummer-eins-Scheiben in den deutschen Album-Charts einzuholen. Der Mundart-Rock avancierte zu einer ernstzunehmenden Größe in der deutschsprachigen Klanglandschaft.

Mitte der Achtziger tauchte auch Ton-Steine-Scherben-Frontmann Rio Reiser wieder auf. Sein erstes Soloalbum „Rio I.“ enthielt mit „König von Deutschland“ und „Junimond“ gleich zwei seiner größten Hits und verkaufte sich so gut, dass er die aus Bandzeiten angehäuften Schulden von rund 200.000 Mark ruckzuck begleichen konnte.

Staub und Stein

1980 wurden die Strickpulli-tragenden Grünen gegründet und brachten mit ihrem provokativen und schonungslos offenen Politikstil nicht nur den Bundestag durcheinander. Die Partei rückte auch verstärkt bisher eher stiefmütterlich behandelte Themen in den Fokus der Gesellschaft. Der durch Luftverschmutzung verursachte saure Regen, die massiven Gewässer- und Bodenverunreinigungen durch die Industrie, die rein ökonomisch ausgerichtete Ausbeutung von Tier und Umwelt und ähnliche Inhalte beeinflussten zunehmend auch die Musikwelt. Gleichzeitig war die politische Situation maßgeblich durch den Kalten Krieg geprägt. Auch dieser Konflikt der Supermächte hinterließ deutliche Spuren in der Musik jener Zeit. Nicht umsonst gewann die damals erst 17-jährige Schlagersängerin Nicole mit „Ein bisschen Frieden“ 1982 den Eurovision Song Contest, auch wenn der Journalist Jan Feddersen der Ballade lediglich eine „Mischung aus romantischer Emotionalität und hysterischer Weltuntergangsstimmung“ attestierte. Auch der Friedensbewegung genügte „ein bisschen“ Frieden nicht. 1982 landete der raustimmige Liedermacher Hans Hartz mit „Die weißen Tauben sind müde“ einen Chart-Hit – und das trotz apokalyptischer Strophen. „Die Welt wird langsam blasser“, während den ermatteten Friedenstauben angesichts der erstarkenden Falken die Kräfte ausgingen. In der letzten Strophe kommt Hartz auf den niederschmetternden Punkt: „Die Welt beginnt zu sterben.“ Dieser vom Menschen initiierte Niedergang wurde auf besondere Weise von der Band Gänsehaut auf ihrem Debütalbum „Schmetterlinge gibt’s nicht mehr“ (1983) besungen. Dem Trio, das sich aus Redakteuren des seinerzeit führenden „Fachblatt Musikmagazins“ rekrutierte, gelang mit „Karl der Käfer“, ein eindringlicher und kritischer Umweltsong in fast schon kindlicher Sprache. Der Protest gegen den Raubbau des Menschen an der Natur und das Zerstören von Lebensräumen wurde zu einem Verkaufsschlager.

Auch in der DDR nahmen sich die Ost-Berliner Rocker Karat dem Kalten Krieg und der Umweltthematik an. Ihre Platte „Der blaue Planet“ erschien im März 1982 zeitglich auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs und verkaufte sich in der DDR rund 1,1 Millionen Mal. In Westdeutschland brachte der Tonträger der Gruppe eine Goldene Schallplatte ein und das mit Textzeilen wie „Wird nur noch Staub und Gestein ausgebrannt alle Zeit auf der Erde sein?“ und der Erkenntnis: „Uns hilft kein Gott unsere Welt zu erhalten.“

Mit ihrem Song „Marionetten“ griffen Karat damals merklich auf Elemente des noch jungen New Wave zurück, jener aus England stammenden Strömung, die mitunter von Nina Hagen in der zweiten Hälfte der 1970er nach Deutschland importiert wurde und die hierzulande in völlig neue und eigenständige Bahnen gelenkt wurde. Die Neue Deutsche Welle war geboren und erhob sich kalt, minimalistisch und gesellschaftskritisch aus dem Untergrund. Bald darauf wandelte sich dieser schneidende Tonfall zu einer massenkompatiblen und humorigen Antithese zu Angst, Krieg und Umweltzerstörung. Also doch wieder schöne, heile Welt, Hedonismus und Verdrängung? Das und viele andere Fragen klären wir im nächsten Teil unserer historischen Exkursion zu den Wurzeln deutschsprachiger Musik.