Die Wurzeln deutschsprachiger Musik, Teil 6: Identitätsfindung

Jenseits des sich rasant entwickelnden Pop- und Rockuniversums breitete sich ab Mitte der 1970er in Untergrundclubs und über avantgardistische Bühnen eine unangepasste Ausdrucksform deutschsprachiger Musik aus. Basierend auf den rauen Klängen der revolutionären Punkbewegung, wurde mit traditionellem Rock gebrochen und stattdessen mit Krautrock (siehe Teil 5), elektronischen Elementen und eingängigen Discosounds experimentiert.

Der New Wave war geboren und mauserte sich zu einer facettenreichen Jugendkultur, die neben der klanglichen Ebene auch in einer rebellischen Mode und sich von den Massen abgrenzenden Attitüde Ausdruck fand.

Grenzwellen

Während sich die mannigfaltigen Projekte stilistisch vom Punk entfernten, blieben konfrontative, politische oder nihilistische Inhalte ebenso Konstanten wie kantige, minimalistische oder expressive Klänge. Es ging um eine Antithese zur Spaßgesellschaft, zum gefälligen Mainstream, um ein bewusstes Abgrenzen und Nicht-Dazugehören. Das Suchen nach immer neuen Ausdrucksformen. Auf der einen Seite agierten hier ab 1978 Bands wie die Deutsch Amerikanische Freundschaft aus Düsseldorf, die mit dadaistisch anmutenden deutschen Texten, harschen elektronischen Sounds und ungewöhnlichen Synthesizerklängen den Weg für die Electronic Body Music ebneten. Auf der anderen Seite loteten die Einstürzenden Neubauten aus Berlin die Grenzen zwischen Geräusch und Musik aus, spielten mit Theaterinszenierungen und Hörspielen. Ihre provokative Performance und die apokalyptischen Live-Installationen schafften Raum auf deutschen Bühnen für die ursprünglich britisch geprägte Industrial-Kultur. Gründungsmitglied Gudrun Gut war vorher bereits bei der jazzigen Undergroundcombo Mania D. aktiv und wanderte später zu den kühl-tanzbaren Avantgardisten Malaria! ab, die mit „Kaltes klares Wasser“ 1982 einen Szenehit landeten.
Doch die frühen Gehversuche der „Neuen Welle“, wie das Printmagazin „Sounds“ titulierte, blieben in der Bundesrepublik weitestgehend ungehört. „In Deutschland findet Punk nicht einmal Platz am Katzentisch der Show-Szene“, konstatierte der Rundy Medieninformationsdienst 1978. Aber das sollte sich mit Verkaufsschlagern wie Ideal, Nena oder Peter Schilling bald ändern.

Da Da Da

Nach weniger erfolgreichen Unternehmungen im Musikbereich startete Stephan Remmler mit Trio 1980 einen minimalistischen Neuversuch. Das auf einem Spielzeugkeyboard entstandene „Da Da Da“ wurde bei ihrem Gig im Hamburger Kultclub Onkel Pö zum Renner. Die Band soll den Song damals mit der Erklärung unterbrochen haben: „Das ist Minimal-Art. Das ist so minimal, dass es schon wieder Art ist.“ Nach ersten Auftritten im Fernsehen, schafften es Trio mit dem Song als erste Vertreter der „Neuen Deutschen Welle“ am 3. Mai 1982 in die ZDF-Hitparade. Auch wenn sie dabei „nur“ den fünften Platz belegen konnten, war der New Wave in dieser besonderen Form im Mainstream angekommen. Annette Humpe, die dem Song im Refrain ihre Stimme lieh, konnte sich mit ihrer eigenen West-Berliner Truppe Ideal zu den bekanntesten Vertretern des kurzlebigen Genres aufschwingen. Lieder wie „Berlin“, „Eiszeit“ oder „Monotonie“ wurden zu wahren Kassenschlagern. Im August 1981 traten Ideal vor 22.000 Fans in der Berliner Waldbühne auf, spielten im gleichen Jahr 27 ausverkaufte Konzerte, bekamen für drei Alben zwei Goldene Schallplatten und durften überdies den Soundtrack zu Rosa von Praunheims Novellenverfilmung „Rote Liebe“ beisteuern. 1983 lösten sie sich per Telexnachricht kurzerhand wieder auf. Kurz und knackig waren aber auch andere Höhenflüge. Die Single „Ich will Spaß“ machte den damals nur 22-jährigen Markus zu einem der populärsten Interpreten der Neuen Deutschen Welle und führte selbige in neue inhaltliche Bereiche. Der Schlager war wieder da, wenn auch in ironischer Form. Der Reutlinger Hubert Kah wurde mit seiner ersten Single „Rosemarie“ über Nacht berühmt und konnte auch mit seinem „Sternenhimmel“ einen Hit landen. Beide Lieder hielten sich für mehr als 20 Wochen in den Singlecharts und wurden gleich zweimal in der Hitparade zum Besten gegeben. Doch die Erfolgswelle – vom Untergrund in die Top Ten – machte nicht alle Bands glücklich. Extrabreit aus Hagen entsprangen eigentlich der Punkbewegung, wurden aber durch Brecher wie „Hurra, Hurra, die Schule brennt!“, „Polizisten“ oder „Flieger, grüß mir die Sonne“ (eine Coverversion des Hans-Albers-Songs) unfreiwillig zur Speerspitze der Neuen Deutschen Welle und zu den Titelhelden der Jugendzeitschrift „Bravo“. Um das Image zu wahren, wurde 1983 erst ein Auftritt bei Dieter Thomas Heck abgelehnt, dann im betrunkenen Zustand Udo Jürgens angepöbelt. Doch während Extrabreit in den Neunzigern nach einer Pause ihr Comeback feiern konnten, verglühte der Stern der Neuen Deutschen Welle und sank 1984 schließlich ganz.

Schluss mit lustig?

Und während Nenas „99 Luftballons“ oder Peter Schillings „Major Tom“ noch für lange Zeit aus den Radiolautsprechern tönten, rappelte sich eine ganz neue Form der Musik auf. Der knapp 15-minütige Hip-Hop-Track „Rapper’s Delight“ der Sugarhill Gang aus dem Jahr 1979 machte auch in Deutschland durch eine mehrwöchige Chartplatzierung klar, dass mit Sprechgesang Geld zu verdienen war. Unterschlägt man das 1980 von Thomas Gottschalk, Frank Laufenberg und Manfred Sexauer als G.L.S.-United eher dilettantisch eingesungene Cover „Rapper’s Deutsch“ als ersten deutschen Rap-Song, setzt Falcos „Der Kommissar“ 1981 den Startpunkt für deutschsprachigen Sprechgesang – in diesem Falle aus Österreich. Als erster weißer Rapper erreichte er mit dem Lied in fast ganz Europa Platz 1. Auch die Godmother of Punk, Nina Hagen, versuchte sich 1983 mit „New York/N.Y.“ im aufgepeppten Rezitativ. Die Rockband Rodgau Monotones ging ein Jahr später einen Schritt weiter und verknüpfte in „Die Hesse komme“ Rap mit hessischer Mundart.
Während der Trend bald darauf abebbte, erwuchs unterhalb des Massenmedienradars eine aktive Hip-Hop-Subkultur. In Jugendzentren trafen sich Gleichgesinnte und frönten dem Breakdance, dem Sprayen und den aus den USA stammenden Battles, bei denen gegeneinander „angerapt“ wurde. Anfangs nur auf Englisch, da Deutsch als spießig und antiquiert galt. Die 1988 gegründete Fresh Familee legte mit „Ahmet Gündüz“ einen der ersten deutschsprachigen Rap-Songs vor, der der Hip-Hop-Kultur entstammte. Aus dem sozialen Brennpunkt Ratingen-West, nördlich von Düsseldorf, stammend, thematisierten die türkischen, marokkanischen, mazedonischen und deutschen Jugendlichen gesellschaftliche Problemfelder wie Drogen, Gewalt, Kriminalität und kulturelle Entwurzelung. Auch Torch von den Heidelberger Rap-Pionieren Advanced Chemistry, wagte es Ende der 1980er auf einem Jam in deutscher Sprache zu „freestylen“, also improvisiert zu rappen. Ein Vergehen, das vom Publikum jedoch wohlwollend aufgenommen wurde. Der Deutschrap erhob sich lautstark und nonkonformistisch, fand von der Straße in Radiosendungen und TV-Produktionen. In diesem Zuge wurde der Fresh Familee ein Plattenvertrag eines Major-Labels angeboten, kurz nachdem die aus Stuttgart stammenden Die Fantastischen Vier ebenfalls unterzeichnet hatten. „Ausverkauf“, wetterten die gesellschaftskritischeren Urgesteine, während mit Fettes Brot oder Der Tobi und das Bo die „Neue Schule“ ihren unpolitischen, ironischen und unterhaltsamen Siegeszug antrat. Kurz nach der Jahrtausendwende machte das Label Aggro Berlin mit Gangsta-Rappern wie Sido, Bushido und Fler von sich reden. Brachial, aggressiv und derb feuerten die Musiker ihre Worte in die Wunden der Gesellschaft. Und trotz Drogen, Kriminalität und Gewalt wurde Sidos Debütalbum „Maske“ 2004 über 100.000mal verkauft. Es gab Gold – wie auch für sämtliche Nachfolgewerke bis 2019, wahlweise auch mal Platin.

Neue deutsche Freiheit

Auch wenn die Neue Deutsche Welle durch ihre kommerzielle Ausschlachtung schnell an Glaubwürdigkeit und durch ihre immer abstrusere Spaßhaltung auch bald an Bedeutung verlor, hatte sie die Musiklandschaft der Bundesrepublik nachhaltig verändert. Mussten frühe Vertreter des Rock, der elektronischen Musik, des Punk oder des New Wave sich noch von der englischen Dominanz befreien und bewusst für deutsche Texte entscheiden, war es durch die Neue Deutsche Welle zur natürlichsten Sache der Welt geworden, auch moderne Lieder in der eigenen Muttersprache zu singen. Deutschsprachige Texte wurden in den Sechzigern und Siebzigern von Jugendlichen häufig noch als altbacken wahrgenommen und mit Schlagern und Volksmusik assoziiert; die Neue Deutsche Welle etablierte die eigene Sprache sowohl im Untergrund als auch im Mainstream.

Einige Musiker der Zeit blieben der Musikwelt hinter den Bühnen treu und verbreiteten die neugewonnene sprachliche Selbstsicherheit als Songschreiber oder Produzenten weiter. Die ehemalige Ideal-Sängerin Annette Humpe schielte mit ihrer jüngeren Schwester Inga beim Projekt Humpe & Humpe zwar auch auf den internationalen Markt, kümmerte sich später aber gezielt um den deutschsprachigen Raum. Sie produzierte unter anderen den Ex-Ton-Steine-Scherben-Frontmann Rio Reiser und war ab 1990 mitunter für den Senkrechtstart der Prinzen verantwortlich, die mit rund sechs Millionen verkauften Tonträgern zu den erfolgreichsten deutschen Bands gehören.

Zahlreiche junge Gruppen nutzten die neue sprachliche Freiheit in Kombination mit einer stilistischen Ungebundenheit. Das Genre und der durch die Industrie aufgedrückte Stempel wurden zweitrangig. Im Vordergrund stand eine offene und facettenreiche Auslotung musikalischer Grenzen. Elemente aus Rock, Pop, Punk oder anderen Stilen wurden spielerisch miteinander verwoben. Häufig standen anspruchsvolle, intellektuelle Texte im Mittelpunkt, oft gesellschaftskritisch oder linkspolitisch. Viele der Bands fanden beim 1988 gegründeten Hamburger Indie-Label L’Age D’Or eine Heimat. So die beiden ebenfalls aus der Hansestadt stammenden Indie-Rocker Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs und Kolossale Jugend, die ihre Debütalben bei L’Age D’Or veröffentlichten. Sie wurden zu den Vorreitern der sogenannten „Hamburger Schule“ gerechnet, die jene neue Bewegung deutschsprachiger Musik zu umreißen versuchte, die im weiteren Verlauf aber nicht auf die Hafenstadt oder das lokale Label beschränkt war. Mit Tocotronic, Die Sterne und Blumfeld sollten drei Bands dieser stilistisch eher heterogenen Schule in den Neunzigern gewaltige Erfolge feiern.

Einhergehend mit diesem erfrischend freien Umgang mit der eigenen Muttersprache, wuchs auch das Interesse an den vermittelten Inhalten. Das Volk hörte zu und wollte wissen, was die Musiker zu sagen hatten. Das seit 1970 erhältliche „Top Schlagertextheft“ erschien ab 1987 nicht mehr wie zuvor alle sechs Wochen, sondern monatlich, um den Hunger der Leserschaft nach Liedinhalten stillen zu können. Auch die in der „Bravo“ abgedruckten Lyrics mauserten sich neben dem Starschnitt und dem Dr.-Sommer-Team zu einem bedeutsamen Teil der Zeitschrift. Gleichzeitig wurde das Erfolgskonzept des Schlagerfilms aufgegriffen und grundlegend modernisiert. Kino und Musik rückten zusammen und wurden in zahlreichen Produktionen zielsicher vermarktet, wie in „Gib Gas – Ich will Spaß“ (1983) mit Nena, Markus und Karl Dall, „Richy Guitar“ (1985) mit Die Ärzte oder „Der Formel Eins Film“ (1985) mit Ingolf Lück, den Toten Hosen und Falco. Musik war zu einem so tragenden und bedeutungsvollen Kulturgut in einer politisch schwierigen Zeit geworden, dass 1987 trotz erheblicher Hürden seitens der deutschsprachigen Musikindustrie der erste reine Musiksender MTV Europe an den Start ging. Dann kam die Wende. Mit dem Mauerfall 1989 und dem damit vorerst beendeten Kalten Krieg, rückten BRD und DDR auch klanglich zusammen. Der letzte Teil unserer Reihe wird diese Jahre unter die Lupe nehmen, der Weiterentwicklung der elektronischen Musik über die Schulter schauen und ausklingend das Schlager- und andere Revivals thematisieren.