TEST Für die meisten Akteure der Musikwirtschaft steht ein Termin im Kalender felsenfest. Ende September reist man nach Hamburg zum Reeperbahn Festival. Natürlich ist die Hansestadt immer eine Reise wert. Doch wenn es um Musik geht, macht kaum einer der Perle an der Elbe Konkurrenz. Dort gibt es die höchste Clubdichte Deutschlands und, Zitat vom ersten Bürgermeister Olaf Scholz: „Gute Musik findet man immer, und man kann mit ihr auch Geld verdienen und herausfinden, wie das am besten geht.“
Dafür sind alle hierher gekommen, um auf dem Hybrid aus Musikfestival und internationaler Branchenplattform für die Musik- und Digitalwirtschaft Lieblingsbands zu entdecken, neue Kontakte zu knüpfen und die aktuellen Herausforderungen der Branche zu diskutieren. Besonders, wenn es um besagte Herausforderungen geht, mischte die GEMA auch in diesem Jahr wieder kräftig mit. Täglich standen Referenten und Mitarbeiter am GEMA-Stand in der Lobby des Arcotel Onyx den Fragen von Künstlern, Verlegern und Lizenznehmern Rede und Antwort. Mit insgesamt sieben Konferenzveranstaltungen und einem eigenem Showcase im Rahmen des Festivalprogramms am Freitagabend, war die GEMA beim Reeperbahn Festival 2017 so präsent wie noch nie.
Los ging es bereits am Mittwoch mit „Blockchain Unchained“. Wolfgang Senges, selbst Mitbegründer der Blockchain Working Group und in ständigen kritischen Auseinandersetzung mit Blockchain, moderierte die Session. Er erklärt, dass Blockchain zu den stark gehypten Themen der Branche gehört, es bis heute aber noch keine konkrete Anwendung gäbe. Doch die Verknüpfung mehrerer bereits bestehender Technologien gilt in Sachen Datenqualität, Fälschungssicherheit und Transparenz von Austauschprozessen trotzdem bereits als revolutionär. Dino Celotti, CEO von „Membran Entertainment“ aus Kanada sieht besonders im Ticketing und in der Infrastruktur von Streaming-Diensten im Hinblick auf Bezahlsysteme eine Weiterentwicklung. Jack Spallone von Ujo Music aus den USA glaubt besonders in der Interaktion mit jüngeren Usern eine Chance zu entdecken. Kai Freitag, der für die GEMA auf der Bühne saß, sieht das Thema noch nicht so optimistisch und findet es „im Moment noch schwierig sich vorzustellen, wie wir Blockchain in unseren Arbeitsalltag einbauen können.“ Webentwickler und Gründer von „res()nate“, Peter Harris, ist überzeugt davon, dass die Auszahlungsgeschwindigkeit an die Künstler beschleunigt werden könnte: „Alles dreht sich um mehr Effektivität. Roboter sind, im Gegensatz zu Menschen, perfekt und können damit schneller auszahlen.“ Steffen Holly, Chef der Abteilung Media Management & Delivery im Fraunhofer Institut, der zurzeit auch mit Unterstützung der GEMA an einem Blockchain-Projekt arbeitet, erklärte: „Im Gegensatz zu anderen Branchen investiert außer Spotify leider bisher niemand aus der Musikbranche in die Technologie.“ Wenn sich das nicht ändere, würden irgendwann alle von Spotify abhängig sein.
Abhängigkeit ist ein schaurig-schönes Stichwort, um den Sekundärmarkt für Tickets zu beschreiben, der im Panel „Das Darknet für Tickets“ diskutiert wurde. Abhängig sind Fans von Ticketpreisen, die über Portale wie Viagogo oder ticketbande aufgerufen werden. Der einst überschaubare Schwarzmarkt, in dem eine Handvoll Verkäufer bei ebay Eintrittskarten meistbietend weiterverkauften, ist inzwischen zu einem automatisierten Boom-Geschäft mit einem Marktwert von rund 8 Milliarden US Dollar mutiert. Begehrte Tickets über den regulären Verkaufsweg zu erstehen, wird immer schwieriger. Nicole Jacobson, die Geschäftsführerin der ticket.de GmbH versucht als Ticketanbieterin bereits gegenzusteuern. Ihre Lösung: Eintrittskarten auf der eigenen Ticketbörse maximal zum Originalpreis plus Personalisierung. Doch Alex Richter von „Four Artists", die unter anderem die Fantastischen Vier buchen, fragt sich: „Wer soll den Mehraufwand zahlen, den andere verursachen?“
Kiki Ressler, „Kikis Kleiner Tourneeservice", der zum Beispiel die Toten Hosen und die Ärzte auf Tour schickt, sieht den gesamten Absatz betroffen: „Da wird viel Geld aus dem Markt gezogen. Wenn Fans überteuerte Tickets für ein Konzert kaufen müssen, sagen sie beim nächsten Mal 'Ich gehe nicht mehr zum Konzert dieses Künstlers' oder 'Ich kann mir das Clubkonzert jetzt auf keinen Fall mehr leisten'.“ Alle am Panel Beteiligten sind sich einig und fordern eine gesetzliche Regelung, um die Problematik in den Griff zu bekommen. In Frankreich, so Ressler, betrachte man eine Eintrittskarte wie ein Wertpapier, das nur zum Originalpreis wieder verkauft werden darf. Ansonsten sind auch die Urheber Leidtragende, deren Beteiligung sich anteilig an den verkauften Tickets bemisst. Deshalb sitzt für die GEMA Ursula Goebel, Leiterin der Direktion Kommunikation, im Panel und bezieht klar Stellung: „Die Verbände müssen diesen Markt der Politik erklären, damit es dort zu einer gesetzlichen Regulierung kommt.“ Besonders Komponisten und Textdichter, also auch zahlreiche GEMA-Mitglieder, profitieren nämlich in keiner Weise von Tickets, die im regulären Markt nicht auftauchen.
Ein weiteres Thema, von dem wir in den nächsten Jahren noch viel hören werden, ist ein Projekt, das die PRS in Großbritannien ins Leben gerufen hat, um dafür zu sorgen, dass Frauen aus allen Feldern der Musikbranche mehr Sichtbarkeit erhalten und sich trauen, selbstbewusster aufzutreten. Auf der „Keychange“-Pressekonferenz im Privatkino des East Hotel wird schnell klar, wie bitternötig die Branche eine drastische Veränderung braucht. Manche Tatsachen, unter anderem die von der Leiterin A/S Services bei der GEMA, Elisabeth Liszt, vorgestellten Zahlen, klingen zunächst völlig absurd. Wer kann sich schon vorstellen, dass die GEMA in den letzten fünf Jahren 85 Prozent der Tantiemen an männliche Urheber ausgeschüttet hat? 15 Prozent Frauen erhielten außerdem nur 6 Prozent der Gesamtsumme. In den Charts sieht es nicht besser aus. Im Airplay finden sich nur 11 Prozent Künstlerinnen. Die Single Charts steigern diese maue Zahl auf einen Frauenanteil von ebenso indiskutablen 26 Prozent. In der hochkarätig besetzten Pressekonferenz meldeten sich Musikerinnen auch selbst zu Wort. Alexa Feser, die übrigens erst mit Anfang 30 ihren ersten Plattenvertrag bekam, beklagt, dass durch zu wenige Frauen der Branche die Vielfalt abhanden komme. Sie möchte ihnen mit ihrer Beteiligung an „Keychange“ das so wichtige Selbstbewusstsein geben, das auch in der Musikbranche nötig ist, um Erfolg zu haben.
Dass nicht nur Frauen die Notwendigkeit zum Handeln sehen, beruhigt. Festival-Mitbegründer Alexander Schulz zeigt Engagement: „Wir haben bereits zweieinhalb Jahre mit der PRS daran gearbeitet, das Programm zu beschreiben und in Brüssel dafür Lobbyarbeit gemacht, dass „Keychange“ verstanden und auch budgetär unterstützt wird. Unser Ziel als Reeperbahn Festival ist es, in fünf Jahren in beiden Programmbereichen ein 50:50 Verhältnis zu erreichen.“ Und das ist gut so. Denn so ein wichtiges Event wie das Reeperbahn Festival ist ein großartiges Tool, um Signale in die gesamte Branche zu senden. Schulz sagte weiterhin, dass es im Konferenzprogramm leichter sei, die Vorgaben umzusetzen, als bei den Konzerten. „Wir haben in diesem Jahr 167 Künstlerensembles mit einem oder mehr weiblichen Mitgliedern von insgesamt 412 Acts.“
Und gerade bei den Auftritten wünschen sich viele mehr Geschlechtervielfalt. Denn in jedem Jahr sind es die noch kleinen Künstlerinnen, die immer wieder für unerwartet große Momente sorgen und mit ungebremster Spielfreude ans Bühnenwerk gehen. Ohne ein paar Stars kommt jedoch auch ein Event wie das Reeperbahn Festival nicht aus. Liam Gallagher wirkte bei seinem Auftritt im Docks zwar eher gelangweilt. Vielleicht gehört diese Haltung aber auch ein wenig zur Attitüde des Altmeisters des Britpop. Dem Publikum gefiel es und spätestens als er den Oasis-Hit „Wonderwall“ anstimmte, war Gänsehaut garantiert. Die filigrane Alice Merton mit der fast souligen Stimme, die mit „No Roots“ gerade ihren ersten großen Hit feiert, überzeugte bereits beim Kurzauftritt am N-Joy Radiobus und sorgte für Menschenmassen vor der Bühne, die fröhlich mitsangen und mitwippten. Maximale Frauenpower brachte Beth Ditto in die Große Freiheit – ein Feuerwerk an Stimme und Präsenz. Wir freuten uns besonders, dass unser Showcase mit den Acts ANA ANA, Impala Ray, Nikolaus Wolf und Daily Thompson vom Publikum sensationell angenommen wurden. Bei allen vier Auftritten herrschte auf der Bühne und im Zuschauerraum beste Stimmung und das Jazz Café in den Tanzenden Türmen drohte zwischenzeitlich aus allen Nähten zu platzen.
Das inzwischen 12. Reeperbahn Festival hat auch in 2017 mit einem umfangreichen Konferenzprogramm und hunderten von attraktiven Auftritten und Showcases wieder bewiesen, dass der Nabel der Musikwelt Ende September in Hamburg liegt. Mit der Elphi, wie die Hamburger ihre Elbphilharmonie liebevoll nennen, untermauert die Stadt diese Führungsposition noch einmal eindrucksvoll mit viel Glitzer und Glamour. Wenn Hamburg ruft, wird auch 2018 wieder die gesamte Musikwelt in die Metropole an der Elbe reisen, um gemeinsam das zu feiern, was alle so sehr lieben: die Musik.