Magazin / 08. Februar 2023

Das Lied geht um die Welt: der zweite Teil unserer Serie „Die Deutsche Sprache in der Musik“

Der historische Streifzug zu den Wurzen deutschsprachiger Musik geht weiter. Der zweite Teil dieser geschichtlichen Forschungsreise beginnt im Zeitalter der Renaissance, widmet sich der Barockmusik und arbeitet sich durch Volks- und Kunstlieder.

Ausgehend von den strengen Reglementierungen des Gregorianischen Chorals machten die europäische Musik eine beachtliche Transmutation durch. Das gar nicht so dunkle Mittelalter war der Nährboden für weltliche und kreative Entwicklungen der zu den sieben freien Künsten gehörenden Klanglehre. Die Musik emanzipierte sich von der Kirche – und auch vom edlen höfischen Treiben.

Die musikalische Pubertät

Tatsächlich bereitete das Mittelalter sämtliche Entwicklungen in der Renaissance vor – gerade im Bereich deutschsprachiger Musik. Von der erzwungenen Einstimmigkeit hatten sich die Künstler längst gelöst, auch wenn neben den vielen polyphonen Werken auch weiterhin homophone Vokalmusik en vogue blieb. Im 16. Jahrhundert wurden auch die üblichen Kirchentonarten erweitert und damit der Grundstein für die noch heute gebräuchliche Dur-Moll-Tonalität gelegt. Mitunter ist die bis in die Gegenwart gebräuchliche Unterscheidung der Stimmen in Sopran, Alt, Tenor und Bass auch jener Zeit zu verdanken. Bahnbrechend war ferner die Entscheidung des in der Schweiz geborenen Multitalents Ludwig Senfl: Nach seiner Berufung an den Hof des bayrischen Herzogs Wilhelm IV. im Jahr 1523 entschloss er sich fürderhin nur noch auf ausgebildete Musiker in seinem Ensemble zurückzugreifen. Dies war nicht nur das Fundament für den 500. Geburtstag des Bayrischen Staatsorchesters in diesem Jahr, sondern auch Pionierarbeit für das professionelle Musizieren generell. Senfl war überdies ein kreativer Kopf und bediente sich zahlreicher Gattungen seiner Zeit von Motetten über Messen bis hin zu Oden und sogar Instrumentalsätzen. Seine deutschen Lieder gehören dabei zur Kernessenz seines Vermächtnisses. Mit „Ach Elslein, liebes Elselein mein“ hielt er mit Versen wie „Wie gern wär ich bei dir! So sein zwei tiefe Wasser wohl zwischen dir und mir“ das Erbe der hohen Minnesänger und ihrer verhinderten Liebe hoch.

Der Höhenflug des Abendlandes

Was heute als „Alte Musik“ gilt, war einst hochmodern und bahnbrechend. Die Barockmusik brachte eine weitere Gleichberechtigung der Instrumentalmusik mit sich, denn anfangs waren Tonwerkzeuge, also Hilfsmittel um Töne hervorzubringen, lediglich Begleiter der im Zentrum stehenden menschlichen Stimme. Die mannigfaltigen neuen Instrumententypen, die schon in großem Stil in der Renaissance entwickelt wurden, und der sich verbreitende Notendruck begünstigten diese Entwicklung. Dank der erschwinglicheren Tonwerkzeuge wurde das Musizieren beliebter und bürgerliche wie adlige Auftraggeber verlangten immer öfter rein instrumentale Kompositionen.
Der „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. bescherte Frankreich mit seiner neuen Hofkultur eine Blütezeit. Durch sein absolutistisches Vorbild beflügelt, erfuhren Wissenschaft und Kunst in ganz Europa einen gewaltigen Aufschwung. Auch die Musik. In Deutschland stachen vor allen Dingen die beiden Komponisten Georg Friedrich Händel und der zu Lebzeiten kaum bekannte Johann Sebastian Bach hervor, die beide im Jahr 1685 das Licht der Welt erblickten. Händel darf hierbei als deutsch-britischer Trendsetter betrachtet werden, denn sein Hauptwerk umfasst 42 Opern und 25 Oratorien, beides im Barock entstandene Gattungen. Leider ist seine frühe deutschsprachige Oper „Die durch Blut und Mord erlangte Liebe, oder: Nero“ nicht mehr vollständig überliefert, ebenso wie zwei andere deutschbetitelte Frühwerke, die in der Hamburger Oper am Gänsemarkt 1708 aufgeführt wurden. Erst der Wechsel zum angesagten Italienischen bescherte ihm große Erfolge. Der Orgelvirtuose Bach ist mit seinen geistlichen Liedern und Chorälen eher als Star der Kirchenmusik bekannt, hat aber auch einige weltliche Kantaten komponiert, also mehrsätzige Werke für eine oder mehrere Gesangsstimmen mit Instrumentalbegleitung. In seiner vermutlich um 1734 veröffentlichten Kaffeekantate „Schweigt stille, plaudert nicht“ huldigt er ausnahmsweise nicht der Obrigkeit, sondern skizziert auf humorvolle Weise den verzweifelten Versuch des Leipziger Herrn Schlendrian, seiner Tochter das Kaffeetrinken zu vermiesen. Doch am Ende bleibt es dabei: „Die Katze lässt das Mausen nicht, die Jungfern bleiben Coffeeschwestern.“

Das Lied macht Schule

Die Klassik mit so namhaften Vertretern wie Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven oder Joseph Haydn, wäre ohne die Mannheimer Schule kaum denkbar gewesen. Kurfürst Karl Theodor ernannte 1743 den böhmischen Komponisten und Violinisten Johann Stamitz zum Konzertmeister, der bis ins Jahr 1778 einen erlesenen Hofmusikerkreis um sich scharte: die Mannheimer Schule, der Wegbereiter der Konzert-Sinfonie. Auf diesem Fundament konnte Mozart sich gegen das Diktat italienischer Opern auflehnen. Schon seine im Alter von elf Jahren komponierte Oper „Die Schuldigkeit des ersten Gebotes“ ist in deutscher Sprache verfasst.
Parallel zur Klassik machte sich ab 1740 die Erste Berliner Liederschule am Hofe Friedrichs des Großen einen Namen, zu denen neben Carl Philipp Emanuel auch andere Bachsöhne gehörten. Manifest dieser auch als „Berliner Klassik“ bezeichneten Gemeinschaft war Christian Gottfried Krauses „Von der musikalischen Poesie“, das noch deutliche Überreste des Barock in sich trug und sich durch die Vorliebe für schlichte volkstümliche Melodien auszeichnete. Carl Philipp Emanuel Bachs Lieder und Oden suchen zum ersten Mal nach einem inneren persönlichen Gefühlsausdruck in der Musik. Hier und da komponierte er auch Lieder „im Volks-Styl“ wie das Trinklied „Der Wirt und die Gäste“. Hier wird nicht nur den lokalen Reben gefrönt, sondern auch das deutsche Liedgut thematisiert: „Nehmt die Gläser, werte Brüder, gebt euch Saft der Reben ein! Singt die besten deutschen Lieder, trinkt den besten deutschen Wein!“
Auch Ludwig van Beethoven orientierte sich bei seinen Strophenliedern ursprünglich an der Berliner Liederschule, allerdings an ihrer zweiten Variante. Mit einzelnen Kompositionen wie „Elegie auf den Tod eines Pudels“ suchte er nach neuen Ausdrucksformen und schuf mit „An die ferne Geliebte“ (1816) schließlich den ersten Liederzyklus überhaupt – das Lied schwang sich zu etwas größerem Ganzen auf. Vielleicht zu einer Frühform heutiger (Konzept-)Alben?

Das Volkslied schlägt zurück

Lange Zeit spielte das Lied als solches keine gewichtige Rolle und trat hinter der Musik für Kirche und Theater deutlich zurück. Der deutsch-dänische Autor und Herausgeber der Zeitschrift „Der Critische Musicus“ äußerte sich als einer der ersten Musikjournalisten: „Es giebt einige große Geister, die sogar das Wort: Lied, für schimpflich halten; die, wenn sie von einem musikalischen Stücke reden wollen, das nicht nach ihrer Art schwülstig und verworren gesetzet ist, solches nach ihrer Sprache, ein Lied, nennen“. Erst der bereits erwähnte Christian Gottfried Krause definierte eine umfassende Liedästhetik. Im Gegensatz zur gewichtigen Arie müsse ein Lied mühelos und von jedem gesungen werden können, ganz ohne instrumentale Begleitung. Eingänge Texte und ein begrenzter Tonumfang waren dabei maßgeblich. 1817 forderte der Schweizer Musikpädagoge Hans Georg Nägeli einen neuen Liederstil, in dem Wort, Gesang und Begleitung zu einem Höheren verschmolzen werden sollten. Erst 1841 definierte der vielgereiste Kapellmeister Carl Koßmaly das Kunstlied als solches, um es bewusst vom Volks- und Kirchenlied zu unterscheiden.
Trotz aller Bemühungen, das Lied in höhere Gefilde zu führen, blieb das Interesse am Volkslied ungebrochen. Mit dem Sturm und Drang und der folgenden Romantik wuchs als Antithese zur rationalen Aufklärung die Sehnsucht nach unverfälschter Naturnähe. Der Weimarer Dichter Johann Gottfried Herder machte das deutsche Lied zu einem Forschungsobjekt und veröffentlichte 1778/79 unter dem Titel „Volkslieder“ eine Sammlung in- und ausländischer Werke. Diese sollten „unverfälschte Äußerungen der Volksseele“ sein, weshalb kein Wert auf die Autorenangaben gelegt wurde. Auf ihn geht auch die Übersetzung des englischen Begriffs „popular song“ als Volkslied zurück; als deutliche Abgrenzung zur hochgestochenen und vertrackten Poesie und zu Oper und Kunstlied. Das „einfache Volk“ und seine Musik wurde gezielt aufgewertet: „Lieder aus dem Munde jeden Volks, über die vornehmsten Gegenstände und Handlungen ihres Lebens, in eigener Sprache, zugleich gehörig verstanden, erklärt, mit Musik begleitet. […]“

Das war der zweite Teil unserer Reihe „Deutsche Sprache in der Musik“. Teil drei reicht bis zur Romantik und industriellen Revolution, danach folgte nur wenig Erleuchtendes. Der Große Krieg brach aus. Er riss die Welt in einen schauerlichen Abgrund in den Totgeweihte zum Klang umgedichteter Lieder im Gleichschritt marschieren sollten. Die Zeitenreise geht also mit der Stunde Null weiter. Mit der Erholung nach Gewalt und Leid – und mit dem Verarbeiten von Schuld und Schrecken.