Magazin / 18. Dezember 2023

Nichts ist vorbei: Die Wurzeln deutschsprachiger Musik, Teil 7

Die deutsche Sprache durchlief in den 1980ern einen ähnlichen Befreiungs- und Selbstfindungsprozess wie einst im Mittelalter. Mussten sich die Minne- und Meistersänger damals noch vom strikten lateinischen Diktat lösen, ebnete die Neue Deutsche Welle unserer Muttersprache den Weg heraus aus dem kleinbürgerlichen Spießertum. Deutsch zu singen war angesagt und Bands aus verschiedensten Genres verbuchten beachtliche Erfolge.

Und wie zu den Zeiten von Klöstern, Burgen und Bauern hatte die Musik auch in den Achtzigern eine treibende gesellschaftliche Kraft. Kunstschaffende auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs begannen ihre Netzwerke zu erweitern, fanden Fans in Ost und West. So wuchs mit dem Mauerfall im November 1989 zusammen, was in der Nachkriegszeit getrennt worden war.

Der Wall

Nachdem die „Sicherung der Westgrenze“ beinahe über Nacht beschlossen worden war, riegelte die Mauer ab August 1961 die DDR endgültig von der BRD ab – physisch wie symbolisch. Doch schon vor dem Bau des menschenverachtenden „Festungsgürtels“ hatten die marxistisch-leninistische SED und die Staatsführung der DDR eigene Vorstellungen von „guter“ und „schlechter“ Musik. Wer in der DDR auftreten wollte, brauchte überdies eine entsprechende Spielerlaubnis, die es entweder mit einem Hochschulabschluss gab oder durch das Absolvieren einer staatlich rigoros geregelten Prüfung. Denn Musik als treibender Teil des „künstlerischen Volksschaffens“ wurde zwar staatlich gefördert, aber eben nur dann, wenn die wiedergegebenen Klänge Partei-Propaganda-konform waren.
Der Rock’n’Roll der 1950er Jahre wurde bereits als entgleiste amerikanische Verrohung betrachtet und der damit einhergehende „unsittliche“ Tanzstil durch den eigens entworfenen SED-Modetanz „Lipsi“ gekontert. Auch wenn einige parteilich angeordnete Hits, wie die Single „Alle tanzen Lipsi“ vom Quintett Flamingos, versuchten, den vermeintlich schmissigen Tanz beim Volk zu etablieren, verfehlte er seine jugendliche Zielgruppe gänzlich und verschwand schnell wieder von der Bildfläche.

Die Bestrebungen der gealterten Herrschenden, eine eigene moderne Unterhaltungsmusik ohne zu viel westliche Fremdeinwirkung zu schaffen, sorgte auf sprachlicher Ebene für eine bemerkenswerte Besonderheit: Im Westen galten deutsche Texte in den Sechzigern und Siebzigern abseits der Schlagerwelt und Volksmusik noch immer als antiquiert. In der DDR entstand durch die auferlegten Einschränkungen – wie die 60/40-Regel, die akribisch vorschrieb, dass mindestens 60 Prozent des Programms bei Tanz- und Unterhaltungsmusik aus sozialistischen Ländern stammen musste – schon frühzeitig ein facettenreiches Gemisch aus deutschsprachigem Rock, Soul, Blues und Jazz. Bands wie Karat, City, Puhdys, Silly, Karussell und Electra verarbeiteten nicht nur spielerisch verschiedenste Genres, ihnen gelang auch auf unterschiedliche Weise der schwierige Spagat, in ihren Werken Ost und West zu einen und trotz der harten gesetzlichen Auflagen und Zensur aktuelle und brisante Themen zu verarbeiten.

Rock für den Frieden

Auch der New Wave sickerte durch die Grenzanlagen vom Westen in die DDR und brachte mitunter die aus Schulbands zusammengesetzte Combo „Rockhaus“ hervor, die mit einer bahnbrechenden Bühnenperformance neue Wege ging. Auch die Neue Deutsche Welle hinterließ Spuren im Osten, die sich in einer Abkehr von komplexeren Songstrukturen und dem Einsatz von Synthesizern manifestierten. So wurde zwar das 1983er-Album „Computer-Karriere“ von den Puhdys von den systemtreuen Kritikern wegen der neuartigen (westlichen) Einflüsse überwiegend negativ bewertet, mauserte sich aber zur meistverkauften Scheibe der Gruppe, die sich außerdem in der Jahres-Hitparade des DDR-Rundfunks gleich mehrfach platzierte.

Obwohl das Komitee für Unterhaltungskunst der aufstrebenden Band „Pankow“ zahlreiche Steine in den Weg legte und eine Plattenveröffentlichung beim staatlichen Label Amiga verwehrte, konnten die New-Wave-Rocker 1983 beim Festival „Rock für den Frieden“ im Palast der Republik auftreten. Vor laufender Kamera wurde bei dieser aufständischen Darbietung die DDR mit Hitler-Deutschland verglichen – und die Liveübertragung schließlich abgebrochen. Drei Jahre später wurde ihr Song „Er will anders sein“ zum Leitmotiv einer neuen Generation. Textzeilen wie „Beim dritten Bier fängt das Gejammer an, was man alles nicht darf und nicht kann. Er hat außer Klagen noch mehr zu sagen“ oder „Bloß nicht daran denken, ablenken? Nein! Er will anders sein!“ ermutigten immer mehr Musikschaffende direkter und lauter zu werden gegen die staatliche Unterdrückungsmaschinerie. „Die anderen Bands“, ein eher hilfloser Versuch der Obrigkeit, die aufbegehrende neue Musikkultur der Punkbands, des Indie-Rocks oder Waves zu kategorisieren, formten eine neue unabhängige Untergrundbewegung abseits der verhärmten DDR-Kontrollorgane. Und noch bevor das Volk zur Friedlichen Revolution auf die Straßen ging, verfassten zahlreiche Künstler, zu denen auch Silly, Pankow und City gehörten, im September 1989 eine „Resolution von Rockmusikern und Liedermachern“, die zahlreiche politische Neuerungen forderte. Es folgten zuerst Sanktionen wie Konzertabsagen und Geldstrafen – und schließlich der Fall der Mauer.

Kreuz und quer

Mit der Wiedervereinigung erklangen in Deutschland völlig neue deutschsprachige Töne. Westliche und östliche Kreative bündelten ihre Kräfte, ihre Visionen und ihre unterschiedlichen Erfahrungen. Doch nicht allen „anderen Bands“ der verblichenen DDR gelang das Fortbestehen nach der Wende. Geldverdienen war unter der SED-Knute zweitrangig, aber nun unterlag das eigene Schaffen der kapitalistischen Agenda. Darüber hinaus waren die ideologischen Ziele, einen politischen Wandel herbeizuführen, erreicht worden; jetzt galt es eine neue glaubhafte und relevante Position innerhalb der Gesellschaft zu etablieren. So lösten sich beispielsweise die Chemnitzer Elektropopper „AG Geige“ 1993 auf, wohingegen die Rostocker Deutschpunks „Dritte Wahl“ bis heute die Bühnen mit politisch-kämpferischen Texten unsicher machen.

Die Nachfahren der Hamburger Schule waren in den Neunzigern mit eingängigen Melodien äußerst erfolgreich. Indes loteten andere Musiker deutlich kantigere Ausdrucksformen aus. Die 1989 in Wolfsburg gegründeten „Oomph!“ suchten nach einer innovativen Verbindung aus elektronischer und gitarrenlastiger Rohheit. Dabei orientierten sie sich einerseits an dem avantgardistischen Stahlwerkgetöse der Düsseldorfer „Die Krupps“ und andererseits am treibend-harschen Electro von „DAF“. Für ihr selbstbetiteltes Debüt wurden sie 1992 vom Musikmagazin Zillo zum Newcomer des Jahres gekürt. Ihre provokative Singleauskopplung „Der neue Gott“, die mit den Zeilen „Kinder, zur Sonne, zur Freiheit! Kinder, zum Lichte empor!“ öffnete und damit auf das von den Nationalsozialisten missbrauchte bekannte Arbeiterlied anspielte, das später auch bei den friedlichen Demonstrationen in der DDR gesungen wurde, war der dröhnende Startschuss einer ganzen Stilrichtung. Im Fahrwasser dieser Neuen Deutschen Härte donnerten bald brachiale metallische Töne von „Die Schweisser“ oder „Fleischmann“ aus den Szeneclubs; der kommerzielle Durchbruch gelang aber erst „Rammstein“ 1997 mit ihrem zweiten Album „Sehnsucht“. Ihr weltweiter Erfolg machte die Neue Deutsche Härte schließlich auch im Ausland populär.

Aber während die einen ganze Stadien zu füllen vermochten, nistete sich abseits dieser gewaltigen Massenveranstaltungen ein neuer Untergrund in Deutschland ein. Und diese Subkultur war wie ihr kommerzielleres Pendant so vielseitig und abwechslungsreich wie nie zuvor. Die Muttersprache kam frei und selbstbewusst zum Einsatz und wurde in den folgenden Jahrzehnten ebenso frei und selbstbewusst mit den mannigfachsten Stilrichtungen vermengt. Deutschrap und Elektronik, Pop und Metal, Punk und Jazz? Alles war mit einem Mal erlaubt und Genre-Grenzen wurden mutwillig „weggecrossovert“. Auch im Radio wurde vorher ungespielten Stilrichtungen mehr Beachtung geschenkt, wobei der Musikmarkt trotz der stilistischen Überschneidungen in immer mehr und immer kleinere Bereiche zerfiel.

Alles kommt wieder

Als der in den Anfangstagen mitunter durch „Kraftwerk“ geprägte Techno in „Scooter“ mit ihrem blonden Fronthünen H. P. Baxxter einen der vielen kommerziellen Höhenflüge erlebte und sogar die Schlümpfe 1995 „Tekkno ist cool“ auf ihrer CD quäkten, erlebten längst Totgeglaubte ihre ganz eigene Renaissance. Die DDR blühte in der romantisierenden Ostalgie-Welle noch einmal neu auf und in Gestalt von Dieter Thomas Kuhn oder Petra Perle kehrte auch der Schlager zurück in die breite Öffentlichkeit. Retro war angesagt und die Modetrends und der Stil der Siebziger als auch die Evergreens jener Tage wieder in aller Munde. 1997 wurde sogar eine eigene Compilationreihe mit Unterstützung des Hitparade-Moderators Uwe Hübner unter dem Titel „Deutsche Schlager Charts“ auf den Markt geworfen, prall gefüllt mit altbekannten sowie neuen Hits und angereichert mit leicht bekömmlichen deutschsprachigen Popnummern. 1998 vertrat schließlich der gelernte Diplom-Pädagoge und Schlagernuschler Guildo Horn Deutschland beim Eurovision Song Contest mit seinem klamaukigen „Guildo hat euch lieb!“– und belegte immerhin den siebten Platz.

Zurück kamen auch Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach oder die Große Heidelberger Liederhandschrift aus dem 14. Jahrhundert. Denn zu den „anderen Bands“ der DDR gehörten mitunter auch Formationen, die eher dem Folk oder der Alten Musik zugetan waren. 1992 überraschten die noch jungen Potsdamer „Subway To Sally“ mit einem mutigen Instrumentarium aus Rockbesteck, Geige und sogar Sackpfeifen. Den ungewöhnlichen Tonerzeugern folgte ein ebenso ungewöhnliches Stilamalgam aus Folk, Rock und später auch Heavy Metal. Gemeinsam mit den 1995 in Berlin gegründeten „In Extremo“ gehörten sie zur Speerspitze des Mittelalter-Rocks, einer spielerischen Verquickung aus Gegenwart und Geschichte. E-Gitarre, E-Bass, Schlagzeug und teilweise elektronische Elemente wurden hier mit historischen Instrumenten wie Dudelsack, Drehleier, Schalmei oder Laute verwoben. Die meist deutschsprachigen Texte waren an mittelalterliche Themen angelehnt oder interpretieren tradiertes Liedgut neu. Einen Schritt weiter gingen die 1989 gegründeten Spielleute „Corvus Corax“, die ihren Namen wählten, weil sie ihren Kolkraben, lateinisch „Corvus Corax“, bei der übereilten Flucht aus der DDR zurücklassen mussten. Sie bedienten sich eines rein mittelalterlichen Instrumentariums und konzentrierten sich auf historische Verse als auch überlieferte Melodien – bis heute.

Und so schließt sich der Kreis und wir sind wieder beim ersten Teil unserer Reihe gelandet: „Tandaradei – Ein historischer Streifzug zu den Wurzeln deutschsprachiger Musik“. Die deutschsprachige Musik war stets den geschichtlichen Gegebenheiten, Ereignissen und der jeweiligen politischen Agenda unterworfen. Sie erlebte ihre Tiefs und Hochs, in Wellenbewegungen, in Schüben und in Reprisen. Aber das Volk ließ sich zu keiner Zeit gänzlich den Mund verbieten. Musik war und ist stets ein Sprachrohr, universell, wandelbar und voller schöpferischer und aufklärender Kraft.