Tandaradei – Ein historischer Streifzug zu den Wurzeln deutschsprachiger Musik
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Was haben Dichter des 12. Jahrhunderts mit Schlagern aus den 1970ern zu tun? Wir haben uns die Entwicklung der deutschsprachigen Musik genauer angesehen.
Mit einem fidelen „Tandaradei“ umschreibt der mittelalterliche Lyriker Walther von der Vogelweide in seinem wohl bekanntesten Mädchenlied „Unter der Linden“ das kecke Liebesspiel zweier höfischer Turteltauben unter freiem Himmel. Einige Jahrhunderte später ist das Thema mit Jürgen Drews‘ „Ein Bett im Kornfeld“ immer noch aktuell. Doch was haben Dichter des 12. Jahrhunderts mit Schlagern aus den 1970ern zu tun? Mehr als auf den ersten Moment ersichtlich ist, denn auch in einem liedermachenden Reinhard Mey, einem rappenden Sido oder einem walzenden Rammstein-Brecher stecken mittelalterliche Wurzeln.
Tatsächlich ist die Geschichte der deutschen Sprache eng mit unserer nationalen Musikevolution verflochten. Deutschland war nicht immer ein „einig Vaterland“. Ganz im Gegenteil war der Raum, in dem die „tiutischin liute“ (deutschen Leute) lebten, territorial und damit politisch stark zersplittert, weshalb etliche unterschiedliche Dialekte parallel existierten. Die Reise von einem Dorf ins nächste konnte erhebliche Verständigungsschwierigkeiten mit sich bringen. Es ist mitunter den höfischen Dichtern und Sängern zu verdanken, dass die Entstehung einer universellen Landessprache im 12. Jahrhundert ihren (noch zögerlichen) Anfang nahm. Bis nämlich von einem einheitlichen „Tiutschland“ gesprochen werden konnte, mussten noch weitere gesellschaftliche wie politische Wandel angestoßen werden.
Der Choral wird weltlich
Bereits der Apostel Paulus verkündete, dass man sich „mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern“ ermuntern solle (Epheser 5,19). Dementsprechend war die Musik als Teil der sieben freien Künste im Mittelalter ein heiliges Pflichtfach. Durch die Christianisierung im Frühmittelalter traten die lateinischen Glaubensklänge über die Klöster und Kirchen einen abendländischen Siegeszug an. Der Gregorianische Choral setzte sich als verbindliche und streng regulierte Form des liturgischen Gesangs durch. Einstimmig sollte er sein und frei von Instrumenten. Doch Kunst duldet keinen Stillstand. Schon im 9. Jahrhundert ist in der Lehrschrift „Musica enchiriadis“ Mehrstimmigkeit belegt. Auch die Erfindung und Weiterentwicklung der Notenschrift – von den rudimentären Neumen bis zu Guido von Arezzos „vierliniger“ Notationsform – beschleunigte die weitere Entfaltung. Wurde Liedgut bisher hauptsächlich mündlich überliefert, konnten Melodien nun mühelos auf schriftlichem Weg weitergegeben werden.
Doch auch die weltliche Musik erlebte in dieser Zeit einen enormen Aufschwung und emanzipierte sich von der Geistlichkeit. Aufgrund der sich etablierenden deutschen Sprache konnte einerseits auf lateinische Texte verzichtet werden, andererseits flossen mehr und mehr nicht-kirchliche Inhalte in die Werke ein.
Minne, Met und Mainstream
Die Stars der ersten deutschsprachigen Hits waren Lyriker und Minnesänger wie der ritterliche Hartmann von Aue oder der „düstersprachige“ Wolfram von Eschenbach. In ritualisierter Form wurde hier das holde Weib in mittelhochdeutscher Sprache besungen. Doch das stark idealisierte Werben um die Gunst einer Angebeteten, setzte sich nur an den Höfen durch. In den Tavernen wurden ganz andere Lieder geträllert. So berichtet die „Vagantenbeichte“ aus der Liederhandschrift „Carmina Burana“ von einem ausschweifenden Spielmannsleben. Auch der lebensfrohe Kosmopolit Oswald von Wolkenstein war im frühen 16. Jahrhundert dem weltlichen Genuss nicht abgeneigt. In seinem Trinklied „Herr Wirt, uns dürstet sehr!“ wird die Geschichte einer herzhaften Eskalation erzählt, die mit Glücksspiel und Alkohol beginnt und mit einem deftigen „Paart euch, bewegt euch“ in einer heiteren Wirtshausorgie endet.
Mit den sogenannten Meistersingern formierte sich im 15. und 16. Jahrhundert ein zunftartiger Zusammenschluss gleichgesinnter Dichter und Sänger. Sie führten unter strengen Reglements das Erbe des Minnesangs fort, rekrutierten sich jedoch nicht aus dem Adel, sondern waren meist Handwerker. Ihre regelmäßigen Zusammenkünfte fanden meist in der örtlichen Kirche oder im Rathaus statt, später auch als so genannte „Zeche“ in Wirtshäusern. Einige von ihnen – wie der berühmte Nürnberger Schuster Hans Sachs, der mehr als 4.000 Meisterlieder komponierte – gaben dabei eigenes Liedgut zum Besten; ein beachtlicher Teil huldigte allerdings lediglich dem tradierten Mainstream und sang was angesagt war.
Es geht voran
Auf diesem Fundament basierend, entwickelte sich die Musik stetig und rasend schnell weiter. Von den höfischen Minnesängern aus, erwuchs in bester Meistersingermanier bereits Ende des 16. Jahrhunderts das Kunstlied, das im 19. Jahrhundert durch Franz Schubert, Robert Schumann oder auch Johannes Brahms zum „Deutschen Kunstlied“ avancierte. Gleichzeitig machte auch das weite Feld des Musiktheaters Fortschritte. Aus dem Jahr 1644 ist mit „Seelewig‘ die erste deutschsprachige Oper von Sigmund Theophil Staden überliefert. Aber erst mit Wolfgang Amadeus Mozart setzte um 1780 eine langsame Abkehr von der dominierenden italienischen zur deutschen Sprache in den Opernhäusern ein.
In den Wohnstuben, auf den Marktplätzen und in den Gasthäusern wurde dabei schon längst deutsch gesungen. Das Volkslied, in Abgrenzung zum Kunstlied, blühte mit der Reformation auf. Erste Liederhandschriften wie das Lochamer-Liederbuch (um 1460) oder Georg Forsters Liedsammlung „Frische teutsche Liedlein“ (1536-–1556) sind Zeitzeugen dieser Anfangstage. Johann Gottfried Herder ist es 1773 im Zuge des Sturm und Drangs und der darauf folgenden Romantik zu verdanken, dass das deutsche Volkslied als „unverfälschte Äußerungen der Volksseele“ umgedeutet und von dem schmuddeligen Ruf der Gassenhauer und Trinklieder befreit wurde.
Erst mit der Industriellen Revolution ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das deutsche Volkslied mehr und mehr von seiner häufig idealisierten ländlichen Kulturdarstellung und der romantisierten Heimatverbundenheit losgelöst und ging fließend in die Studenten- und Arbeiterlieder jener Zeit über. Der Große Krieg (1914-1918) und der später um sich greifende Nationalsozialismus führten zu einer zunehmend politischen Rolle der deutschen Kunst. Sie gipfelte mitunter in den Widerstandsliedern eines Bertold Brecht – Musik als Instrument der Auflehnung und des moralischen Anprangerns.
Trotz der zunehmenden Globalisierung der Musikwelt und der damit einhergehenden Dominanz des Englischen, brachten das 20. und 21. Jahrhundert immer neue Facetten deutschsprachiger Musik hervor. Und bis heute wohnt jeder dieser gespielten Noten und jeder gesungenen Strophe ein kleines freches „Tandaradei“ inne.
Aber wie konnte es von Walther von der Vogelweide zu Bushido kommen? Was hat ein Liedermacher mit den Traditionen des Fahrenden Volkes zu tun? Jenem tief verwurzelten Erbe werden wir künftig in weiteren Artikeln nachgehen und die klangliche Evolution hin zu einer beachtlichen stilistischen Diversität genauer beleuchten.